Die Pferde, meine Lehrer

Kairos und die Entdeckung der Langsamkeit

Was wir von Pferden über uns und unser Leben lernen können

Kairos ist ein fünfjähriger Trakehnerwallach und eins meiner privaten Pferde. Ich habe ihn vor 3 Jahren gekauft und groß gezogen. Kairos ist ein sehr sensibles Pferd.

Er ist ein sogenannter Aufsetzkopper. Koppen ist eine Art stereotypes Verhalten, dass immer in Verbindung mit einer Kompensation steht. Entweder die Kompensation eines Traumas oder lang andauernder Stress. Man kann es als eine Art Zwangsstörung betrachten.

Es gibt den Irrglauben, Pferde würden sich solch ein Verhalten abschauen. Das tun sie jedoch nur, wenn bei ihnen der Stresslevel genau so hoch ist, wie bei ihrem Vorbild. Diese Art Hospitalismus entsteht nur in Gefangenschaft in Boxenhaltung.

Kairos wurde von der Mutter getrennt

Kairos hat laut Züchterin halbjährig damit begonnen. Er hat die Sommer in Weidehaltung und die Winter in einer großen Laufbox mit Gesellschaft und täglichem Auslauf verbracht. Ich nehme an, dass er die Trennung von seiner Mutter nicht verkraftet hat.

Die Umstellung bei uns auf Offenstallhaltung hat sein Koppverhalten reduziert, aber er nutzt es immer noch zur Entspannung. Das Koppen ist ihm mittlerweile ein treuer Freund geworden.

Pferde, die sich so einen Ausgleich suchen, sind meistens besonders sensibel. Diese hohe Sensibilität hat zur Folge, dass sie viel mehr spüren und wahrnehmen als andere Charaktere. Sie sind ständig damit beschäftigt, die Umgebung zu checken um im Falle eines Falles flüchten zu können. Dadurch entsteht eine gewisse Grundspannung und Grundunsicherheit.

Dazu kommt natürlich noch der Trakehnerfaktor. Böse Zungen sagen, die Trakehner wären alle etwas speziell.

Ein Pferd mit viel Energie

Nun denn, mein lieber Kairos hatte auf jeden Fall den Energielevel eines Duracellhasen. Einmal angeschaltet, zeigte er eine Art blinder Aktionismus.

Das äußerte sich zum Beispiel, wenn wir einen entspannten Spaziergang haben wollten. Na ja, ich wünschte mir den entspannten Spaziergang. Kairos wollte es wohl einfach schnell hinter sich haben und war im Stechschritt unterwegs.

Außerdem litt er an „Hilfendemenz“, das heißt, ich musste meine Bitte um ein langsameres Tempo pro Kilometer gefühlte hundertmal äußern.

Herausforderung ‘longieren’

Ähnlich sah es beim Longieren aus. Einmal angeschaltet, zentrifugierte er solange und so flott um mich herum, dass mir schwindelig wurde. Natürlich war ich damit nicht zufrieden. Ich wünschte mir ein „Miteinander“. Darunter verstehe ich einen gemeinsamen Bewegungsfluss, Synchronität, gegenseitiger Respekt und Wertschätzung und vor allem Vertrauen.

Die Realität war, ich hatte nun circa ein Jahr damit verbracht habe, ihn zu managen. Ich versuchte, sein Verhalten umzukonditionieren mit positiver und negativer Verstärkung. Dadurch konnte ich ihn kontrollieren, aber in eine „wirkliche“ Ruhe kamen wir mit dieser Art des Trainings nicht.

Mein Wunsch war es, unsere Beziehung auf eine neue Ebene zu bringen. Eine meiner Eigenschaften ist, wenn ich einmal etwas verstanden habe, dann gehe ich auch meinen Weg.

Die neue Erkenntnis die mir Kairos gibt

Ich freute mich, auf eine neue Lektion der Erkenntnis durch meinen Freund und Lehrer Kairos. Wenn ich solch ein Projekt beginne, gehe ich immer zuerst einmal in die Eigenreflektion, denn bekanntlich spiegeln Pferde uns ja. Jedes Thema und jedes Verhalten, dass das Pferd zeigt, hat immer etwas mit uns selbst zu tun. Das Pferd geht mit uns oder einem Aspekt von uns in Resonanz.

In welchen Momenten war ich das Duracellhäschen? Ich beschäftigte mich in Gedanken mit meiner eigenen Grundenergie. Ich beobachtete mich. Wann war ich entspannt, wann in Spannung.

Nach einiger Zeit wurde mir Folgendes klar:
Ich finde das Leben total spannend. Neue Projekte reizen mich. Da kann ich schlecht nein sagen. Leider bringt diese Tendenz mich bei entsprechender Auslastung dann auch in eine Anspannung, bis hin zur Überforderung.

Was ich mit meinem Pferd gemein habe

Gottseidank erkenne ich bei mir selbst die Anzeichen und ziehe dann die Bremse. Würde ich das weiter praktizieren, wäre der Burnout nur eine Frage der Zeit. Aber genau, wie Kairos scheine ich „hilfendement“ zu sein, denn es passiert mir immer und immer wieder.

Dann muss ich mir immer wieder sagen: Langsam. Nachdem mir diese Parallele zwischen Kairos und mir klar geworden war, ging es nun in den Änderungsprozess. Mir war klar, dass ich erst mein eigenes Thema lösen musste, um mit dem Pferd wirklich in Verbindung treten zu können.

Eine Achtsamkeitsübung mit Pferd

Mir kam die Idee für eine Achtsamkeitsübung mit dem Pferd. Das Longieren erinnerte mich an mein eigenes Hamsterrad. Hier wollte ich beobachten und experimentieren, wie Kairos und ich gemeinsam in die Ruhe kommen könnten.

Meine erste Idee war, ihn vorerst nur im Schritt zu longieren und so lange zu warten, bis er die typischen Anzeichen von Losgelassenheit (Abschrauben, Dehnungsbereitschaft, schwingender Rücken) zeigte. Dann erst und nur dann, wollte ich ihn antraben.

Oh mein Gott, das war eine harte Zeit für mich. Es war für mich fast nicht auszuhalten in der Mitte zu stehen und nichts zu tun. Einfach nur zu warten und meine Energie zu senken, trotzdem im Hier und Jetzt bleiben. Es war der Horror, aber ich zog es durch.

Nach einer Stunde schnaubte er ab und der Schritt wurde ruhiger. Die Schritte wurden länger. Ich bemerkte, dass ich das wunderbar an der Longe fühlen konnte. Wenn er in Spannung war, bewegte sich die Longe viel mehr, als wenn er ruhiger wurde. Ich testete das mit geschlossenen Augen.

Umschaltsignale – Zeichen der Körpersprache

Ich war mitten im „Empfinden“. Ich nutzte alle meine Sinne. Ich konnte Umschaltsignale beobachten. Unter Umschaltsignale verstehe ich Zeichen der Körpersprache, die mir signalisieren, dass Kairos in ein anderes Spannungsniveau kommt.

Diese Zeichen können sein:
Abkauen, Zwinkern, Gähnen, Kopf senken und so weiter. Außerdem zeigen diese Zeichen, dass andere Hirnregionen aktiviert werden, wie zum Beispiel der frontale Cortex. Dieser ist mit für das Lernen verantwortlich.

Wenn ein Pferd also aus einem Spannungszustand in einen entspannteren Zustand kommt, ist es eher in der Lage meine Hilfen wahrzunehmen und zu verarbeiten. Im angespannten Zustand kann es das deutlich schlechter bis gar nicht.

Das war also die „Hilfendemenz“. Kennt man auch selbst. Man muss nur versuchen in aufgeregtem Zustand eine Mathematikaufgabe zu lösen. Oder in einer Überforderungssituation Verhaltensmuster zu ändern. Schwierige Voraussetzung.

Was sind eigentlich die Umschaltsignale beim Menschen?

Beobachtet es mal bei euch, so unähnlich sind wir den Pferden da nicht. Da erkannte ich wieder die Parallele zum Pferd.

Ich verwende zur Verdeutlichung immer gerne die Skalierung, auf einer Skala von 1-10, 1 ist total entspannt, 10 in Panik. Während Kairos eine Stunde brauchte um von einem Energiepegel von 5 auf eine 2 zu kommen, brauchte ich dieselbe Zeit um völlig im „Hier und jetzt“ anzukommen.

Ich war ruhig und mit mir verbunden und bereit, Kairos und die Umgebung völlig wertfrei wahrzunehmen und zu spüren. Interessant!

Mir wurde auch klar, dass ich in der Verantwortung war eine solche Atmosphäre zu kreieren, damit Kairos und ich selbst arbeitsfähig und lernfähig sind. Sollte es so einfach sein?

Experimente mit Achtsamkeit im Alltag

Die darauffolgenden Wochen experimentierte ich mit dieser Idee mit Kairos, aber auch im Alltag. Ich machte wunderbare Erfahrungen. Immer wenn ich bei mir selbst eine Anspannung wahrnehme, schau ich, was ich brauche um sie wieder zu senken.

Das können sehr unterschiedliche Maßnahmen sein, wie zum Beispiel 2 Minuten bewusst atmen. Oder eine kleine Pause, ein Lied hören, ein Gespräch mit einer Freundin.

Wenn ich die Spannung spüre und zeitnah für mich sorge, verschwindet die Anspannung innerhalb kürzester Zeit. Je länger ich die Anspannung aushalte, umso länger dauert es sie loszulassen.

In unserer „Longier- Achtsamkeitsübung“ sind Kairos und ich mittlerweile ein gutes Stück weiter. Wir üben gerade nur über Energieaufbau und Abbau die Tempis zu wechseln. Wir brauchen nicht mehr lange um in ein „Miteinander” zu kommen.

Wenn wir beide verbunden sind, ist es wie Zauberei. Es ist ein wunderschönes Gefühl. Je öfter ich es spüre, umso weniger gebe ich mich mit einem „Nebeneinander“ zufrieden.

Ich schaffe Kontexte mit einem gewissen Stresslevel. Dort übe mich darin, für Kairos einen Raum zu schaffen, in dem er zur Ruhe kommen kann. Ohne Zwang und ohne Managen.

Im Video: Kairos und ich beim Üben

In dem Video seht ihr uns beim Üben. Lasst euch inspirieren und geht gemeinsam mit eurem Pferd auf eine gemeinsame Reise. Lernt euch auf eine neue Art kennen und genießt den Prozess.