Muss ich in der Arbeit mit dem Pferd der Chef sein?
In der alternativen Reiterszene wird viel über Partnerschaft und/oder Dominanz diskutiert.
Wer ist der Chef?
Wer bewegt wen?
Das Pferd muss uns als Führer respektieren. Viele Konzepte beruhen auf Druck und Druckverstärkung. Wenn es ein vermeintlich faires Konzept ist, gibt es Stufen. Diese enden mitunter in körperlichen Druck, der solange andauert, bis das Pferd reagiert.
Im Fachjargon der Lernpsychologie heißt das negative Verstärkung. Aber da das sich nicht positiv genug anhört, gibt es andere Umschreibungen dafür. „Schau mal, jetzt hat er Vertrauen!“ Wird gesagt, wenn er Unterordnungssignale anzeigt.
Wenn er das nicht tut, hetzen wir ihn vielleicht noch ein bisschen im Roundpen im Zeichen der Pferdeliebe?
Falsch verstandene Anwendung von Horsemanship
Oft sehe ich Pferde, die nach Anwendung von Horsemanship und ach so toller Freiarbeit eins gelernt haben: angelegte Ohren, Angst, Fehler zu machen, erlernte Hilflosigkeit.
Es werden alle Tricks ausgepackt um die Pferde dazu zu bringen, das zu tun was wir wollen. Aber sie sollen es gefälligst auch freiwillig tun. Sie sollen Spaß daran haben und wenn ich keinen Strick dran habe und das Pferd macht es freiwillig muss es doch Spaß daran haben! Oder?
Wir sind ja dann besser als die Konservativen, die mit Sporen und Gerte und noch schlimmer Hilfszügeln und Gebissen die Pferde gefügig machen. Denn wir machen ja Horsemanship, Indianertraining, Energiearbeit etc.
Sich Leistung mit Leckerlies erkaufen?
Es gibt auch noch ein anderes Extrem. Diejenigen, die sich die Leistung erkaufen. Mit tütenweise Leckerlis. Dressierte kleine Äffchen werden manche Pferde und man nimmt ihnen dadurch die Würde. Pferde sind intelligente Wesenheiten. Sie haben Weisheit und zeigen uns unsere Themen. Wenn wir sie hören und sehen wollen.
Die Hauptfragen:
Wer bin ich?
Wie wirke ich auf das Pferd?
Wenn alle Hilfsmittel, Leckerlis, Drohmittel und Krücken wegfallen und es bleibt nur noch eins übrig: ICH.
Wer bin ICH?
Wie wirke ICH auf das Pferd?
Respektiert das Pferd mich?
Und respektiere ich das Pferd?
Respektiere ich seine Meinung über mich?
Oder geht es in Wahrheit nur darum, das Pferd zu manipulieren, dass es das tut was ich möchte. Freiwillig?
Kann ich mir selbst in die Augen sehen?
Kann ich mir selbst in die Augen sehen und sagen, diese Intervention war genau die Richtige! Sie war hilfreich, um das Pferd und mich weiter zu entwickeln, um uns beide wachsen zu lassen.
Eine Win-Win-Situation. Nicht, der eine wird klein gemacht, damit der Andere wachsen kann. Oder der Mensch macht sich klein und hebt das Pferd auf ein Podest.
Es geht dabei um mehr als nur um die Pferd-Mensch Beziehung. Es geht um unser komplettes System. Wie wir sind und denken mit unserer Umwelt, mit unseren Mitmenschen, mit unseren Kindern, mit unseren Tieren.
Der kollektive Druck der auf uns lastet
Unser Gesellschaftssystem funktioniert heute leider so:
Bringe Leistung, passe Dich an und du bekommst Anerkennung. Wirst Du anerkannt, gehörst Du dazu. Bringst Du keine Leistung oder verhälst Dich nicht angepasst, bekommst Du Druck vom System. Du wirst ausgegrenzt. Wenn Du überleben willst, funktioniere wie alle anderen. Dieser Tage erleben wir das nochmal im ganz großen Stil.
Im Gegensatz dazu werden wir aber auch aufgefordert unsere Individualität zu finden, denn die Menschen und auch die Tiere werden krank. Sie leiden unter dem System. Das hat man heute dann auch schon verstanden. Distress, Burnout, Boaringout, Psychosomatik. Bei den Pferden Magensgeschwüre, Ekzeme, Verhaltensstörungen. Deshalb sollen auch alle schön Yoga oder Meditation machen, Horsemanship und Waldbaden. Raus aus dem Kopf, rein ins Gefühl.
Aber bitte nur soviel Selbstfindung, dass Wir wieder belastbar werden, damit wir wieder funktionieren.
Ein Beispiel:
Ein Pferd will seine Reiterin nicht aufsitzen lassen
Heute habe ich mit einer Frau und ihrem Pferd gearbeitet. Ihr Pferd will sie nicht aufsitzen lassen.
Ich beobachte die beiden. Die Frau atmet fast nicht, sie ist unruhig und angespannt. Blinder Aktionismus.
Ich würde sie auch nicht aufsteigen lassen. Ich sage ihr genau das. Ich sage ihr, sie muss selbst erst so zur Ruhe kommen, damit ihr Pferd sie nicht mehr als Belastung empfindet, sondern als leicht. Dafür muss es sich mit ihr frei fühlen. Ohne Druck, ohne Manipulation.
Ob es nicht helfen würde, wenn ich mich drauf setze? Ich sage Nein. Das ist ihre eigene Reise mit dem Pferd.
Zuerst am Boden mit dem Pferd arbeiten
Zuerst arbeiten wir am Boden an einem Miteinander. Es zeigen sich einige Baustellen. Unklare Signale, doppelte Botschaften. Nach einiger Zeit ist das Pferd mit unserer Arbeit zufrieden. Es ist entspannt und zeigt das über deutliche Körpersprachsignale.
Jetzt gehen wir zur Aufsteighilfe. Die Frau hat das lange eingeübt. Das Pferd stellt sich sofort und brav an die Seite. Aber man spürt, die Energie steigt. Es gibt nur einen kleinen Shift in der Gewichtsverlagerung von der Frau weg.
Wir stehen nur da und atmen. Nach einer Weile stellt das Pferd sich bequem hin und senkt den Kopf. Ich bedanke mich bei dem Pferd für sein Vertrauen. Die Einheit ist beendet.
Ein guter Freund von mir, Ian Benson, sagte einmal:
“So wie Menschen mit Pferden arbeiten, leben sie auch Ihr Leben.“